Daniela Gugg (CH)
durchschichten
2. Februar - 2. März 2012
Zwei Seiten desselben Raumes, 2012
Stereoanlage, Holzlarvenfrassgeräusche,
Prägung durch Druck auf Papier positiv/negativ
Archäologisches Ausgrabungsmodell (Tunnel 57, 1:160), 2012
Ton, Gibs, Holz
Umraum, 2012
Holzrahmen, Lehmreste
Hohlraummauerwerk 'rat-trap', 2012
Handgefertigte Lehmziegel, luftgetrocknet
Umformulierungsplan (Abraum des Tunnel 57 = 45000 Lehmziegel), 2012
Architektenpapier, Bleistiftzeichnung
Luftwaffe, 2012
Stofftüten, Holz, Petflaschen, Tesa
Alle Fotos (c) Michel Bonvin, 2012
einerseits
Eine Frage der Perspektive
Die Perspektive während der Observierung
der Holzlarven-Aktivitäten unter der
Holzoberfläche war nicht eindeutig: Wer
beobachtet hier wen?
Mauern / Zwei Seiten desselben Raums
Eine Mauer ist ein Trennwert, der Raum
ein- und ausgrenzt. Durch Mauern wird ein
'Innerhalb' und ein 'Außerhalb' kreiert, ein
'Hier' und ein 'Drüben'.
Mauern sind eine sonderbare Scheinlösung
in Konfliktfällen. Wird ein Konflikt
gelöst und die Mauer abgerissen, bleibt
sie noch lange als Phantom in den Köpfen
weiter bestehen; das belegen unzählige
Zeitzeugenberichte am Beispiel der
Berliner Mauer.
Tunnel als Weg unten durch
Die Tiefen unter der Erdoberfläche wurden
und werden immer wieder als geheime
Wege genutzt, um an künstlichen Grenzen
vorbeizukommen. Die kartographischen
Einteilungen entziehen sich unter der Erdoberfläche
der Kontrolle und scheinen dort
anderen Gesetzmäßigkeiten zu unterliegen.
Für unterschiedlichste Zwecke wird der
schwierige Weg durch den Untergrund
gewählt, sei es beispielsweise aus
Gründen politisch motivierter Flucht, sei es
für Schmuggel- oder für Spionagezwecke.
Erfindungen in der Not / Luftwaffe
Es gibt vielfältige Beispiele für den
Erfindungsreichtum, womit Tunnelgrabungen
und damit Fluchtmöglichkeiten realisiert
wurden.
Darunter einfachste Mittel, die beinahe nur
aus 'Luft' bestanden, wie beispielsweise
eine Luftpumpe, die von Gefängnisinsassen
im Kriegsgefangenenlager
Stalag Luft III zur Zeit des Zweiten Weltkrieges
die Sauerstoffzufuhr im Tunnel
gewährleistete und so den Erfolg für die
Flucht ermöglichte. Diese Pumpe sieht
selbst aus wie ein Tunnel; ein atmender
Hohlraum, der durch das Falten und
Glätten des Stoffes frische Luft anzieht
und ausstößt.
Archäologie als Denkvorgang
Die archäologische Wiederausgrabung
des Flucht-Tunnels 57, des Hohlraumes
beziehungsweise des Umraumes, der 57
Menschen zur Flucht von Ost- nach Westberlin
verhalf und 1964 von 34 Fluchthelfern
während sieben Monaten freigelegt
wurde, würde einen Teil Berliner Geschichte
zugänglich machen - ähnlich wie
die Tunnelmuseen in Sarajevo oder im
ehemaligen Vietcong.
Ziegelproduktion und Umformulierungsplan
Der Aushub des Tunnels würde 'umformuliert'
etwa 45.000 Ziegel im Reichsformat
ergeben. Ein hölzerner Umraum
dient zur Formung des Lehms zu Ziegeln.
Für das Vermauern der Ziegel ist das
englische Hohlraummauerwerk 'rat-trap'
vorgesehen, da die Mauerzwischenräume
- wie es der Name verspricht - bereits viel
Bewegung und Unterwanderung (immerhin
für Ratten) vermuten lassen.
Mauer - Tunnel - Mauer
Diese Umformulierung, gebaut aus handgefertigten
Ziegeln, könnte als Erinnerungsraum
der Berliner Mauer und Tunnel
dienen.
Daniela Gugg
andererseits
'Sachverhalte sind nicht mehr als
Schichten, die erst der sorgsamsten
Durchforschung das ausliefern, um
dessentwillen sich die Grabung lohnt.'
Walter Benjamin
Daniela Gugg lässt ihre Ausstellungsbesucher
den 'white cube' physisch durch
einen Türbogen betreten. Aber man geht
keineswegs bloß von einem Raum in den
nächsten. Vielmehr durchschreiten wir
Innen- und Umraum zur gleichen Zeit,
denn eine kleine hörbare Irritation lässt
den Besucher innehalten.
Zwei Seiten desselben Raums ist diese
scheinbar unaufgeregte Arbeit betitelt:
Holzlarvenfraßkanalprägungen hängen
neben dem Türstock, ein negativer und ein
positiver Druck, Innen- und Außenansicht
eines Hohlraumes; begleitet vom unablässlichen
Fraßgeräusch der Holzlarven.
Daniela Gugg ermöglicht hier genaues
Hinhören und Sehen und faltet den 20qm
großen Ausstellungsraum weit auf.
Darin zu sehen erneut zwei Seiten
desselben Raums:
Ein Hohlraummauerwerk 'rat-trap' und der
dazugehörige Umraum, aus vier Holzverstrebungen
gebaut, der Gugg als Werkzeug
für den Ziegelbau diente.
Es geht um Mauern, Mauern verstanden
als Grenzen, die die Begegnung mit dem
Anderen zu verhindern suchen. Aber die
Entscheidung über Innen und Außen ist
naturgemäß eine Frage der Perspektive.
Dass Mauern, die eingrenzen und Menschen
ihrer Freiheit berauben, in der Geschichte
immer wieder untergraben und
unterwandert wurden und werden, auch
das thematisiert die Künstlerin in ihrer
Arbeit Luftwaffe.
Was bedeutet aber die Aushebung eines
145 Meter langen und 12 Meter tiefen
Tunnels? Wie viel Masse an Lehm wurde
während der sieben Monate verschoben?
Und wohin mit all der Erde, die herausgeschaufelt
werden muss für die Freiheit?
Dafür hat Gugg einen hypothetischen Umformulierungsplan
(Abraum des Tunnel 57
= 45.000 Lehmziegel) entworfen. Sie
denkt die Geschichte weiter in die Zukunft.
Mit dem durchschichten des Vergangenen
wird nicht nur das Erdreich durchwühlt,
sondern das Erinnerte wird auf der
anderen Seite des gleichen Raumes in ein
neues Bild gefügt. Die Erdmasse eines
freigeschaufelten Tunnels von Ost- nach
Westberlin dient der Künstlerin als
Material für einen imaginären Raum, der
selbst wiederum als Erinnerungsstätte genutzt
werden soll.
In ihren Arbeiten lässt Daniela Gugg
kritische Analyse und sinnlich erfahrbare
Ästhetik verschmelzen und lädt die
Besucher zu einer differenzierten
Perspektivierung auf ein und denselben
Raum ein.
punctum. sonja baude
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